Cover
Titel
Transcending the Nostalgic. Landscapes of Postindustrial Europe Beyond Representation


Herausgeber
Jaramillo, George S.; Tomann, Juliane
Reihe
Making Sense of History (42)
Erschienen
New York 2022: Berghahn Books
Anzahl Seiten
VIII, 261 S., mit Abb.
Preis
$ 135.00; £ 99.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Haumann, Centre for Urban History, Universiteit Antwerpen

In „Transcending the Nostalgic“ geht es nicht um die kritische Auseinandersetzung mit postindustrieller Nostalgie – jedenfalls nicht systematisch. Viele Beiträge dieses Sammelbandes nehmen zwar Perspektiven ein, die zeigen, dass es jenseits der nostalgischen Verklärung früherer industrieller Arbeits- und Lebenswelten auch andere Möglichkeiten gibt, sich alte Fabrikgelände oder Bergbaufolgelandschaften anzueignen.1 Aber dieser Aspekt steht nicht im Zentrum des Bandes. Vielmehr sind hier Aufsätze versammelt, die das Konzept einer „More-Than-Representational theory of landscape“ (S. 10) an empirischen Beispielen ausbuchstabieren sollen. Im Einklang mit aktuellen Ansätzen der Geographie und der Kulturwissenschaften wird Landschaft als dynamische Kategorie verstanden, die performativ in „sayings and doings“ hervorgebracht wird. Auf den Untersuchungsgegenstand postindustrieller Landschaften übertragen, wird gefragt, „how former industrial spaces are being (re-)created in the present day, and what entanglements and developments are at play within these processes for the future“ (S. 5). Wie wird das gegenwärtige Verständnis von industriellen Vergangenheiten im Wechselspiel mit den Gebäuden alter Fabriken, der Topographie aufgelassener Bergbauanlagen oder anderer Artefakte immer wieder neu konstruiert? Mit diesem Erkenntnisinteresse ist der Band im weiteren Feld der Heritage Studies zu verorten.

Das Problem mit einem „More-Than-Representational Approach“ ist, dass damit alles Mögliche gemeint sein könnte, jedenfalls für diejenigen Leser:innen, die nicht zum engeren Zirkel dieser Theoriedebatte gehören. Als umwelthistorisch Interessierter hatte ich den Verdacht, hier gehe es eventuell um die Frage nach der Bedeutung von materiellen Dynamiken (Verfall von Gebäuden, Bodenabsenkung) oder ökologischen Prozessen (Neubesiedlung durch Pflanzen und Tiere). Und in der Tat legen die Herausgeber:innen dies in der Einleitung auch nahe, indem sie auf nicht-menschliche Akteure hinweisen, explizit im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie, und andeuten, dass Machtbeziehungen materiell in die Landschaft eingeschrieben seien. Allerdings werden diese Zusammenhänge dann in den Beiträgen nicht systematisch analysiert, sondern unhinterfragt vorausgesetzt. „More-Than-Representational“ bezieht sich hier, das wurde mir im Laufe der Lektüre klar, auf etwas anderes, nämlich auf die (menschliche) körperliche Erfahrung mit den Hinterlassenschaften der industriellen Vergangenheit. Im Zentrum stehen performative Handlungen, wie das Fotografieren von Industriedenkmälern, sowie emotionale Reaktionen auf verfallene oder neugestaltete Räume. Natürlich ist auch das mehr als „nur“ Repräsentation, aber es ist eben lediglich eine Möglichkeit, diesen Anspruch umzusetzen. Und genau das wird unvorbereiteten Leser:innen wohl erst deutlich, wenn sie alle Beiträge gelesen haben. Die Einleitung bleibt in dieser Hinsicht zu knapp.

Das Konzept, das aufzeigen soll, wie Landschaften in der performativen und emotionalen Auseinandersetzung hervorgebracht werden, erfordere besonders kreative methodische Herangehensweisen, so die Herausgeber:innen. Tatsächlich ist es eine Herausforderung, affektive Reaktionen im Umgang mit Landschaft forschungspraktisch zu fassen. In den Beiträgen werden vor allem drei Ansätze genutzt: Erfahrungsberichte der Forscher:innen selber, Interviews mit Zeitzeug:innen und Entscheidungsträger:innen sowie die Rekonstruktion politischer Debatten über den Erhalt oder die Umnutzung industrieller Anlagen. Die Autor:innen kommen aus unterschiedlichen Disziplinen, von der Geographie über die Heritage Studies und die Europäische Ethnologie bis zu den Theaterwissenschaften. Das macht die Einschätzung der methodischen Innovation der einzelnen Beiträge schwierig, und leider wird auch diese Frage in der Einleitung nicht systematisch aufgegriffen.

Die ersten drei Beiträge, die zu einer Sektion unter dem Titel „Postindustrial Ecologies“ zusammengefasst sind, basieren auf einem Mix aus teilnehmender Beobachtung und Interviews. Sie fokussieren auf die Frage, wie die Natur ehemals industriell geprägte Landschaften zurückerobert, allerdings lediglich aus der Perspektive individueller Erfahrungen ausgewählter Akteur:innen. Zunächst beschreibt Sophia Davis ihre eigenen emotionalen Eindrücke, die die verlassene Militärbasis Orford Ness, eine Insel vor der Britischen Westküste, auf sie gemacht habe. Im zweiten Beitrag wertet Hilary Orange eine Reihe von Zeitzeug:innen-Interviews zum Wandel der Bergbaulandschaft in Cornwall aus, während Xaquín S. Pérez-Sindín die Rekultivierung der ehemaligen Braunkohletagebaue im Süden Leipzigs anhand von Expert:innen-Interviews und teilnehmender Beobachtung nachzeichnet. In diesen Beiträgen erfährt man viel über Emotionen, aber auch darüber, wie Emotionen an die Konstruktion von Erinnerungen und Stimmungen geknüpft sind. Allerdings basieren die drei Aufsätze auf einer eher dünnen empirischen Grundlage; die Argumentation ist oftmals assoziativ und impressionistisch. Es ist erstaunlich, wie wenig die Autor:innen über die von ihnen gewählten Methoden reflektieren, obwohl die Diskussion wichtig wäre, wie Interviews und teilnehmende Beobachtung durchgeführt werden können und wo die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten liegen, um diese Fragen für einen „More-Than-Representational Approach“ nutzbar zu machen.

In der zweiten Sektion des Buches finden sich unter der Überschrift „Performative Narratives“ hingegen zwei Beiträge, die die methodologische Diskussion in der Tat weiterbringen können. Victoria Huszka analysiert, wie Bilder von Industriedenkmälern im Ruhrgebiet performativ im Rahmen von sogenannten Photowalks hergestellt werden. Dabei zeigt sie, dass bestimmte Akteur:innen diese fotografische Praxis nutzen, um sich als Mitglieder einer „Creative Economy“ zu positionieren, die auch für die Neuerfindung des Ruhrgebiets als postindustrieller Region steht. Huszka betont, dass es dabei auf die performative Auseinandersetzung mit der Industrielandschaft ankomme, ganz konkret auf die Wahl bestimmter Perspektiven, Bildausschnitte und Lichtverhältnisse, aber auch auf den Umgang mit technischem Equipment und Software bis hin zur Publikation der Fotos auf Instagram. Methodologisch interessant ist das vor allem, weil Huszka explizit danach fragt, wie emotionale Beziehungen zur proträtierten Landschaft in dieser fotografischen Praxis sichtbar werden. Ähnlich reflektiert geht Amanda Lawnicki ihren Untersuchungsgegenstand an: die im Stadtbild von Tuzla sichtbaren Folgen des Bosnienkriegs und der Entvölkerung der Stadt. Sie nutzt Interviews, um zu kartieren, wo in der Vorstellung der lokalen Bevölkerung leerstehende, ungenutzte Gebäude sichtbar sind und wie dies von der tatsächlichen Situation abweicht. Überraschend ist, dass ihre Interviewpartner:innen die zahlreich vorhandenen Ruinen oft gar nicht als solche identifizieren. Lawnicki kommt zu dem Schluss, dass dies Ausdruck einer emotionalen Reaktion auf die Folgen des Krieges und des wirtschaftlichen Niedergangs der Stadt sei, in der sich viele Bewohner:innen nach historischer Kontinuität und tragfähigen Zukunftsperspektiven sehnen.

Weitere Beiträge, die sich mit dem Erhalt bzw. der Umnutzung industrieller Anlagen in verschiedenen europäischen Städten befassen, zeichnen vor allem lokale politische Debatten nach. Jennie Sjöholm fokussiert auf eine Diskussion der letzten Jahrzehnte im nordschwedischen Bergbauort Kiruna, bei der es um die Frage ging, ob Arbeiterwohnhäuser und Verwaltungsgebäude, die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurden, der weiteren Expansion des Eisenerzbergbaus weichen müssen. Irena Šentevska diskutiert am Beispiel einer für Theaterzwecke umfunktionierten Zuckerfabrik in Belgrad, wie stark die Aneignung des Areals während der 1990er- und 2000er-Jahre von den wechselnden politischen Rahmenbedingungen in Jugoslawien bzw. Serbien abhängig war. Abigail Hunt untersucht in ihrem Beitrag zur dritten Sektion des Buches („Reimagining Futures“) die Visionen und Bilder, die seit den 1980er-Jahren produziert wurden, um die Erneuerung der früher industriell geprägten Landschaft um Brayford Pool im britischen Lincoln voranzubringen. Dino Gavinelli, Eleonora Mastropietro und Giacomo Zanolin richten die Aufmerksamkeit in einem gemeinsamen Text auf die lokalpolitischen Konflikte um die Besetzung und Umnutzung einer ehemaligen Fabrik am Rande von Milano. Diesen vier Beiträgen ist gemeinsam, dass sie spannende empirische Beispiele für Kontroversen auf dem Weg zu einer postindustriellen Landschaft aufzeigen und verdeutlichen, dass hier in der Tat auch emotionale Faktoren im Spiel sind. Allerdings erinnern sie methodisch eher an konventionelle Ansätze der Politik- und Planungsgeschichte, in denen sich die Bedeutung von Emotionen nicht wirklich aufdrängt. Der Sammelband schließt mit einem Beitrag, der die Ebene der lokalpolitischen Auseinandersetzungen wieder verlässt. Carola Hein, Tino Mager und Stephan Hauser beleuchten die Geschichte der ehemaligen Raffinerien in Dünkirchen und an der französischen Küste aus einer planungstheoretischen Perspektive. Interessant ist besonders ihr Ansatz, die emotionale Bedeutung dieser Landschaft mit Hilfe von Designverfahren zu erfassen, die aus der Praxis der Architektur und Stadtplanung entlehnt sind.

Um den Band als Ganzes einzuordnen, ist der als Epilog fungierende Beitrag von Emma Waterton sehr hilfreich, einer der führenden Vertreterinnen der Heritage Studies. Sie stellt vor allem heraus, worin das Potenzial von „More-Than-Representational Theories“ liegt. Die Autorin weist auf Emotionen als kollektive und körperliche Erfahrungen hin, die sich eben nicht vollständig unter Repräsentationen und Diskurse subsumieren lassen. Die Motivation, sich eingehend mit diesen Emotionen zu befassen, das wird bei Waterton sehr deutlich, resultiert aus der Kritik an der ästhetisierenden nostalgischen Aneignung von industriellen Hinterlassenschaften. Durch die genauere Untersuchung von Emotionen können Perspektiven auf deindustrialisierte Landschaften gewonnen werden, in denen die Menschen nicht nur als Rezipient:innen von touristisch, museal oder kommerziell vermarkteter Industriekultur, sondern als deren Produzent:innen verstanden werden.

Insgesamt bietet der Sammelband viele aufschlussreiche Fallbeispiele, in denen es um die Aneignung und Neubewertung ehemals industriell geprägter Landschaften geht. Ob es sich dabei immer um „postindustrielle“ Landschaften handelt, ist fraglich, wenn – wie in Tuzla – eigentlich Kriegsfolgen der entscheidende Bezugspunkt sind oder – wie in Kiruna – die industrielle Entwicklung noch keineswegs abgeschlossen ist. Da mögliche Verbindungen zwischen den Fallbeispielen nicht thematisiert werden, kann hier auch nicht, wie in der Einleitung angekündigt, von einer transregionalen Perspektive die Rede sein. Zudem werden die Verbindungen auf methodischer Ebene nicht hergestellt, was insofern ärgerlich ist, als die Suche nach einem „More-Than-Representational Approach“, der Performanzen und Emotionen in den Mittelpunkt rückt, tatsächlich vor allem eine methodische Herausforderung bedeutet. Hier hätte ich mir einen stringenteren Dialog zwischen den Autor:innen gewünscht, oder zumindest eine Einleitung, die die Pluralität der Beiträge systematisch aufgreift und für die Entwicklung des Konzepts nutzbar macht. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass in einem dynamischen Verständnis von Landschaft der Rolle emotionaler Faktoren mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss – und dass es dafür kreativer, gründlich reflektierter Methoden bedarf. Gerade die Debatten über Industriekultur, sowohl die wissenschaftlichen als auch die politischen, könnten davon in der Tat sehr profitieren.

Anmerkung:
1 Vgl. Stefan Berger, Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 18 (2021), S. 93–121, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2021/5913 (28.01.2023).